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Rio de Janeiro, Copacabana, 13. Juli 2014, so etwa 1 Uhr morgens: Hier ist der Traum vom vierten Titel längst mit der Wirklichkeit verschmolzen

Vier Deutsche, zehntausende Argentinier, 120 Minuten. Das Finale dieser WM war für mich, für uns alle die Geburt einer Legende. Ich habe es auf dem Fanfest an der Copacabana geschaut, mitten im „Feindesland“…

Als wir das letzte Mal Geschichte schrieben, war ich gerade einmal sechs Jahre alt und wahrscheinlich mehr an Lego interessiert als an Fußball, an den Triumph jedenfalls kann ich mich nicht mehr erinnern. Heute, nach 24 Jahren, hat sich für mich ein Kreis geschlossen und auch für die goldene Generation, die bereits 2009 die U21-WM gewonnen hatte, für Deutschland.

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Rio war den ganzen WM-Monat über fest in argentinischer Hand. Nach dem Finale weinten dann etwa blau-weiße 100 000 Fans mit ihrem Team

Rio, 26 Grad, 12 Uhr mittags, hier sind scheinbar heute einfach alle Menschen dieser Stadt, und auch die Fußballglücksritter aus Deutschland und Argentinien. Die deutschen Fans sind dramatisch in der Unterzahl, die Argentinier sind einfach überall, selbst der Himmel strahlt „albiceleste“, blau mit weißen Wolken. Seit 6 Uhr morgens haben sie beim FIFA FanFest angestanden, um auch ja hereinzukommen, dabei sind bereits einige Bier geflossen – oder auch Fernet, ein in Argentinien beliebter Kräuterschnaps, der mit Cola gemischt verführerisch süß schmeckt. Auch Brasilianer sind hier, sie haben sich mit Deutschlandfarben die Gesichter angemalt und sind auch sonst in jeder Hinsicht dafür, das Argentinien doch nun bitte geschlagen werden soll. Zu lange schon klingen an den Stränden Rios die Spottgesänge der „Gauchos“, und Verleumdungen wie „Maradona es más grande que Péle“, „Maradona ist großartiger als Péle“, hört man hier nun wirklich nicht gerne.

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An der Copacabana herrschte schon den ganzen Tag Final-Vorfreude. Einige hatten scheinbar sehr viel Durst, da half dann nur ein Schläfchen

Der abgesperrte Public Viewing Bereich der FIFA gleicht einem Vergnügungspark, in dem alle betrunken sind, nicht wenige Argentinier machen mitten in dem Tumult noch ein Schläfchen. Fahnen werden frenetisch geschwenkt, Zigaretten im Minutentakt vernichtet und leere Bierbecher achtlos in den Sand geworfen, wo sie mehr oder weniger große Müllinselns bilden. Hier sind alle vom Sieg überzeugt, mehrere zehntausend von ihnen sind angereist, außerdem, sie haben ja quasi den Ziehsohn Gottes auf ihrer Seite – Messi wird seit seiner erfolgreichen WM in seiner Heimat mehr denn je verehrt. „A Messi lo vas a ver, la copa nos va traer“, singen sie – „Du wirst Messi sehen, er wird uns den Pokal bringen“.

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Als die Stimmung noch gut war: Zehntausende Argentiniener sind zum FIFA Fan Fest gekommen, um ihre Mannschaft gebührend anzufeuern

Noch zwei Stunden, jetzt ist Zeit für Nervenbier, noch eine Stunde, noch mehr Bier, Brasilianer haben es mir geschenkt, unter der Bedingung, das Deutschland Argentinien doch jetzt bitteschön „weghauen“ soll. „Klar“, lache ich und nehme noch eine tiefen Schluck aus meinem Becher. Hier bin ich also, als Deutschlandfan mitten in diesem Meer aus blauweißen Trikots, eine Wand aus Adrenalin und Alkoholdunst. Gemeinsam mit zwei Freunden und zwei ihrer Freunde, die ich gerade erst kennen gelernt habe – das heißt, wir haben mit einem weiteren Bier angestoßen. Eine Viertelstunde noch bis Anpfiff, die Fans von Argentinien singen, gröhlen sich schon einmal in Stimmung, während noch viel mehr Bier fließt als bisher, und sich die Müllinseln zu kleinen Landmassen vereinen.

Einmarsch, die deutsche Hymne wird als erste gespielt, um uns herum ist es totenstill, während wir mitsingen, fragende, auch einige herausfordernde Blicke streifen uns. Für den Notfall haben wir aber eine Art Versicherung, einer meiner beiden Freunde ist selbst aus Buenos Aires und als Fan von River Plate Hassduell-erprobt. Ein schwungvoller Start, bei dem jede noch so kleine Aktion seitens der Argentinier lebhaft kommentiert, bejubelt beziehungsweise ausgepfiffen wird. Ihr Team wirkt vielleicht sogar ein wenig frischer und frecher, daher sind die Fans der „Abiceleste“ bereits ein wenig übermütig. Wer noch das Spiel Deutschland-Brasilien im Hinterkopf hat, und das hat hier wohl jeder, hätte sicher etwas anderes erwartet, wir fangen jedenfalls langsam an unruhig hin und her zu wackeln und immer mal wieder Richtung Bierstand zu schielen.

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Die „Gauchos“ feiern ihr Team, das im Estadio Maracana den besseren Start erwischt hat – da wusste noch niemand etwas von der 113. Minute

Schon in der vierten Minute taucht dann Gonzalo Higuaín vor Neuer auf, doch setzt den Ball neben das Tor, kollektive Schnappatmung. Haareraufen in beiden Lagern. Dann die 18., Khedira-Ersatz Kramer bekommt Garays Schulter an den Kopf, wir buhen und gehen in dem Stimmenmeer um uns herum einfach unter. Kramer kämpft dann noch weiter, muss dann aber schließlich passen, wir applaudieren bei der Auswechslung ergeben, nur um im nächsten Moment schon wieder Atemnot zu haben. Wieder ist es Higuaín, 30. etwa, diesmal ist der Ball drin, grenzenloser Jubel um uns herum, wir starren fassungslos auf die Leinwand und merken erst selber gar nicht, dass es Abseits war. „Das kann jetzt psychologisch ganz gefährlich sein“, fachsimpelt mein Freund mir über die Schulter zu , während um uns herum die Argentinier uns anknuffen, so von wegen „grade noch ma Glück gehabt wa?“. Und dann plötzlich doch noch mal ein Lebenszeichen, ein Aufschrei der vier Deutschen in der Menge, doch auch wenn Höwedes am höchsten steigt, am Ende rettet Aluminium die Argentinier in die Pause.

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Nein, das ist nicht das Maracana auf der Brust dieses Fans – aber die Leidenschaft der Argentinier für den Fußball geht unter die Haut

Dann einer der Momente, vor denen wir uns so gefürchet haben, Messi, 47. Minute, Boateng verliert den Ball gegen ihn und so sehen wir mit wachsender, an Panik grenzender Anspannung, wie Argentiniens Bester den Ball elegant am Pfosten vorbei setzt. Zu dem Zeitpunkt sind bereits etliche weitere Biere ins Land gegangen. Zehn Minuten später senst Neuer dann in bester Schumacher-Gedächtnis-Manier Higuaín um, während er eine weitere Chance der Argentinier verhindert. Um uns herum singt jetzt jeder, die Blau-Weißen wittern ihre Chance und feuern ihr Team frenetisch an, während wir schon wieder nervös hin und her wackeln. „Könnten sie nicht schon vor dem Ende treffen bitte“, denken wir, eine Verlängerung möchte man vor Spannung kaum ausstehen. Es ist definitiv das beste Finale seit 1998 für mich, doch ein Tor vor Ablauf der 90 hätte ich dennoch gern, lieber mal wieder ein dreckiger Arbeitssieg anstatt Jogi Bonito. Kroos kann dann aber leider nichts mit dem guten Pass von Özil anfangen, und so müssen wir uns wohl oder übel noch mehr Bier holen.

Die Verlängerung vergeht wie ein Fiebertraum, Chance Schürrle, Chance Palacio, hin und her, Muskelkrämpfe auf dem Platz, Magenkrämpfe im Sand. 113. dann Götzes Apotheose, volley angenommen und an Romero vorbei ins Glück. In Artikeln wird ja oft über die Stille vom Maracana im Zusammenhang mit dem Finale von 1950 gesprochen, als Uruguay Gastgeber Brasilien besiegte. Diese Stille hat sich jetzt scheinbar über die ganze Stadt ausgebreitet, fassungslos starren die Argentinier die Leinwand an, als wäre Götze eine Epiphanie. Jetzt singt niemand mehr, und unser Torjubel mit uns mit Bierduschen gedankt.

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Fassungslosigkeit in allen Gesichtern, eben hat Gold-Götze alle Träume der Argentinier vom dritten WM-Titel volley zu Staub zerschossen

Als alles vorbei ist drehen sich die meisten einfach stumm um und verlassen mit hängendem Kopf die Arena, geschlagene Helden, ein Team, das seit 1986 auf seinen nächsten Titel wartet. Bei uns entgleisen sämtliche Emotionen und Gesichtszüge, und der Jubel der glorreichen Vier schallt durch die argentinischen Fans hindurch, der Rest ist Schweigen. Etwa zwei Stunden tanzen wir noch mit anderen deutschen Weltmeistern ein wenig verkrampft deutsch im Sand herum und huldigen weiterem Gerstensaft, das brasilianische Bier ist zwar nicht wirlich gut, aber dafür immer eiskalt. Und außerdem sind Weltmeister durstig.

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„I had the time of my life…“ Andreas Leyendecker kommt aus einem 550-Seelen-Nest, pünktlich zum Finale war er dann aber in Rio

Schließlich ziehen wir noch 500 Meter weiter an den Strandabschnitt in Leme und vereinen uns dort mit der feiernden Masse an Deutschland-Fans, betrunkener Fußball-Patriotismus tönt hier aus allen Kehlen, es ist alles recht Kreisliga-Pokalsieger-mäßig, leider werden auch immer mal wieder Songs wie „Scheiß-Argentinien“ angestimmt und Menschen wie Oliver Pocher als Anheizer auf die Bühne gelassen. Aber es wird immerhin sagenhaft getrunken und bei guter Stimmung gemeinsam der Sieg begossen. Was am Ende bleibt? Ein komisches Gefühl, nicht im eigenen Land gewesen zu sein, als wir Weltmeister wurden. Das, und ein dickes fettes Dauergrinsen. See you 2018, selbst wenn es wirklich Russland sein sollte.

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